Systemisches Aufstellen
Jeder Mensch sucht für sich einen guten Platz im Leben, wünscht sich Erfüllung in der Beziehung und im Beruf. Allzu oft gelingt ihm beides nicht, oder zumindest ist einer der Bereiche gestört. Auch nach jahrelanger Arbeit in Selbsterfahrungsgruppen und Therapien, die seiner Persönlichkeit sehr zugute kamen, wiederholen sich schmerzvolle Erfahrungen und Schicksalseinbrüche. Hier setzt die Arbeit der systemischen Familientherapie an. Es hat sich gezeigt, dass der Platz, den ein Mensch in seinem Herkunftssystem einnimmt, von ihm (ungewusst) wieder und wieder eingenommen wird. (z.B. der Sohn übernimmt den Misserfolg seines Vaters und wiederholt ihn in seinem Leben.) Eine Sippe ist wie eine Baumgruppe. Jeder Stamm steht einzeln für sich, und doch sind die Wurzeln aller unterirdischen miteinander verstrickt und holen sich die Kraft aus demselben Boden. Der eine mehr aus der linken Ecke (in Verbindung zu einer bestimmten Person) und des anderen Wurzeln sind mehr rechts mit denen z.B. des Grossvaters verbunden. Doch alle sind zumindest über das Wasser und die Nährstoffe des Bodens miteinander vereint und teilen eine Vergangenheit und ein Unbewusstes.
Wenn ein Baum stirbt, so wird ein Stamm gefällt, doch seine Wurzeln bleiben noch einige Zeit im Erdreich, bis sie zerfallen. So hat sich gezeigt, je näher ein Ereignis (z.B. der Tod eines Geschwisters) zurückliegt, desto stärker wirkt es. Je weiter entfernt Schicksalsumstände sind, desto schwächer wird die Wirkung, so dass sie nur durch Wiederholung in Erinnerung bleibt. Und genau das möchte das "System". Es will Ungerechtikeiten und Schicksalsschwere im "Sippengedächtnis" behalten und dort ausgleichen. Jedes Gefühl, das "oben" im (Bewusstsein) nicht konfrontiert, nicht ertragen wird (z.B. die Trauer über ein früh verstobenes Kind), wird nach "unten" (ins Unbewusste) abgegeben und "geistert" dort so lange herum, bis ein anderer (Nachkommender) es aufgreift und in sich wiederbelebt. Darüber hinaus hat jede Sippe ein sogenanntes Sippengewissen, eine Art "Gerechtigkeits-Ausgleichskonto". In unserem Bild heisst das, dass von der Baumgruppe kein Baum grösser, schöner, glücklicher sein darf als die anderen. Er ist der Gruppe gegenüber loyal und beschneidet sich selbst, sobald er zu hoch hinauswächst.
Es gibt einige aufgestellte Grundsätze, die darüber Auskunft geben, was innerhalb einer Sippe als Glück, als viel, und was als Unglück, als wenig, gilt und ausgeglichen werden muss. Z.B. früh zu sterben gilt als "wenig", so dass ein anderer das "Wenige" aufgreift und sein eigenes Leben verkleinert, sein Glück verringert, z.B. indem er sich Liebe und Erfüllung in der Partnerschaft versagt. Die Wiederholung von Unglück führt jedoch niemals zum Glück. Genau deshalb ist es wichtig, solche übernommenen Wiedergutmachungsbündnisse aufzudecken und zum Guten zu wenden. Nicht die ehemaligen "Opfer" wünschen, dass ihre Wunden weitergetragen werden, sondern die Nachkommen übernehmen freiwillig die Last für diejenigen, die vor Ihnen waren. Erkennt man diese "klein-machen-den" Loyalitätsversprechen und entbindet aus ihnen mit Hilfe von Ritualen die verborgenen Kräfte (und die verborgene Liebe), kann und darf der Baum endlich über die Grösse der anderen hinauswachsen und Früchte tragen.
Es gibt zwei unterschiedliche Richtungen, in die wir bezüglich unserer Zugehörigkeit zum System schauen können: entweder in die Vergangenheit oder in die Gegenwart. Der Blick in die Vergangenheit zeigt uns unser Herkunfftssystem, unsere Ursprungsfamilie. Dazu gehören als Erstes unsere Eltern und Geschwister, Onkel und Tanten, die Grosseltern und deren Geschwister. Ausserdem gehört jeder dazu, der einem von diesem Mitgliedern Platz gemacht hat. z.B. die erste Frau des Vaters. Wenn sie nicht Platz gemacht hätte, gäbe es dieses System nicht. Oder die Grossmutter hatte vor Ihrer Ehe mit dem Grossvater schon zwei Männer. Dann gehören auch diese mit dazu. Wenn es in der Vergangenheit der Sippe ein Täter/Opfer-Geschehen gibt, so ist es wichtig, auch auf dieses zu schauen. Das zweite System ist das System der von uns selbst geknüpften Beziehungen und deren Vorgeschichte. Zu diesem Gegenwartssystem gehören alle Partner und Partnerinnen und die Kinder aus dessen Beziehungen. Es ist verständlich, dass auch die frühen Partner der Partner hinzugehören, schiesslich verliebt man sich nicht in ein "ungeschriebenes Blatt", sondern in ein Menschen mit einer Geschichte. Und auch hier gilt, dass früheren Platz gemacht haben, sonst hätte das Neue nicht entstehen können.
Jede Familie besitzt eine starke innere Zusammengehörigkeit, ganz gleich ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht. Selbst derjenige, der sich gegen seine Eltern oder Sippe auflehnt, ist unbewusst zutiefst mit ihnen verbunden und verstrickt. Kinder tragen die Lasten und Energien ihrer Familie mit.
In jeder Sippe herrschen andere Gesetzmässigkeiten und Ordnungen. Diesen sind wir bewusst oder unbewusst treu und loyal. Diese Loyalität ist einerseits Ursache von viel Unglück und anderseits - nach der Lösung - eine Quelle der Kraft. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, mit denen das Kind - und wir sind ja, wenn wir zurückschauen auf die Vergangenheit, alle Kinder, "mit "Kleinen" - seine Liebe und seine loyale Zugehörigkeit ausdrückt." Vor allem geschieht dies durch übernommene Verantwortung, durch Schicksalswiederholung und Ähnlichkeit. Oft ist diese Ähnlichkeit und Schicksalsmischung, die erst einmal sehr neu und sehr individuell aussieht . Ein Beispiel: Eine Frau hat als Kind miterlebt, dass der Vater zur Geliebten ging und dass die Mutter sehr unglücklich darüber war. Erst mit über 50 wurde ihr klar, dass sie es mit der von ihr gewählten Lebensform "geschafft" hat, beiden Eltern gegenüber loyal zu bleiben. Sie blieb unverheiratet und lebte Tür an Tür mit der Mutter. So hielt sie das Versprechen ein: "Arme Mama, wenn schon der Papa geht, so bleibe doch wenigstens ich bei dir." Darüber hinaus war sie seit vielen, vielen Jahren die Geliebte eines verheirateten Mannes: "Lieber Papa, ich mache es wie du." So und ähnlich kann sich die grosse Liebe des Kindes ausdrücken. Oft stellen wir erst spät fest, dass wir dabei viel geopfert haben. Im Falle dieser Frau ist dies der Verzicht auf eine eigene Familie und eigene Kinder.
Noch einmal zusammengefasst: Die Möglichkeit, unsere Treue und Loyalität zum Ausdruck zu bringen, ist unser eigenes Leben. Einerseits ist es das von uns (unbewusst) gewählte Schicksal, andererseits sind es übernommene Empfindungen und Gefühle, die eigentlich zu einer anderen Person und zu einem anderen Leben gehören. Eine weitere Möglichkeit, das Unglück eines Sippenmitgliedes auszugleichen, ist Krankheit.
Was drängt uns, uns derart zu opfern, während uns der Verstand doch sagt, dass damit niemandem geholfen wird? Wenn in der vorletzten Generation jemand ums Leben kam, in der letzten einer diesem folgte, was soll es bringen, dass das Unglück heute fortgesetzt wird? Ein System ist ein Energiefeld, das über bestimmte Ordnungsfaktoren zusammengehalten wird. Trotz mancher Ausnahmen wiederholten sich diese Gesetzmässigkeiten regelmässig.
Bertold Ulsamer schreibt in seinem Buch "Ohne Wurzeln keine Flügel": Eine Familie über mehrere Generationen hinweg lässt sich mit einem Mobile vergleichen. Wenn irgendwo ein Ungleichgewicht entsteht, erfolgt sofort eine Reaktion an einer anderen Stelle, um das Gleichgewicht wiederherzustellen. Die Kinder sind Mitglieder, die sich ganz in den Dienst des Gleichgewichts stellen. Sie übernehmen alle Energien im System, damit die Familie als Gesamtsystem wieder in Ordnung ist.
So stehen wir unter einem ständigen Einfluss, wir sind zum Teil wie Marionetten, die an den Fäden der Familiengeschichte hängen. Und, vergessen wir nicht, dass wir hier in unserer Kultur seit über 2000 Jahren in der Tradition des Christentums stehen. Ob wir uns dort bewusst einreihen oder nicht, tut hier nichts zur Sache. Alle unsere Wurzeln stecken tief in Werten wie: Schweres tragen und auf sich nehmen macht gut und wird belohnt. Von Generation zu Generation wurde uns das "Sich opfern" als das einzig Erlösende und Heilbringende weitergegeben. Jeder Mensch, dessen Seele sich bereit erklärt, auf diese geheimnisvolle, magische Weise anderen, früher Geborenen ein Stück Schicksal abzunehmen, hat in der Sippe einen wichtigen Platz. Dort fühlt er sich dann gross und unschuldig. Fühlte er sich leicht und glücklich im Anblick derer, die es schwer hatten, käme er sich vor wie ein Verräter. Somit ist auch klar, dass der Weg heraus aus den Verstrickungen immer mit Verrat, allerdings mit einem sinnvollen, Fortschirtt bringenden Verrat verbunden ist.
Aus der Aufstellungs- und Therapiearbeit gibt es Erfahrungswerte, was in einer Sippe als schwer, als "Minus" gilt und was dann in der Regel von später Geborenen ausgeglichen wird. Das grösste "Minus" verursacht der frühe Tod eines Familienmitglieds. Das Sippengewissen registriert ein langes Leben als Fülle, als "Plus", und so wird der zu frühe Tod einer Person später von einem anderen ausgeglichen, der sich selbst aus Loyalität die Fülle des Lebens nimmt. Das heisst nicht automatisch, dass auch dieser früh stirbt, doch der Wille zum Leben ist geschwächt. Es gibt viele Möglichkeiten, sich eines kraftvollen Lebens zu berauben: Alkohol, Drogen, Krankheit, Depressionen, Selbstmordgedanken und Todessehnsucht.
Ebenso schwer lasten Verbrechen und Schuld auf dem Gewissen einer Sippe. Jedes Unrecht, im Besonderen Mord und schwerer Missbrauch, werden über viele Generationen gesühnt. Bisweilen überspringt die schlimme Wirkung eine Generation und ein Enkel "bezahlt" dafür. Denken wir dabei besonders an die Opfer des Nationalsozialismus. Immer wieder stellt sich heraus, wie bereitwillig sich der Mensch zu den Opfern stellt und dabei selbst zum Opfer wird, um das Unrecht z.B. seines Grossvaters auszugleichen. Manchmal aber wird er selbst zum Täter, um so an die Tat zu erinnern. Ein weiteres zentrales Ordnungsprinzip, das nicht ohne Ausgleich verletzt werden darf, ist die Zugehörigkeit. Jedes Sippenmitglied hat das gleiche Recht auf Zugehörigkeit. Wird jemand, besonders zu Unrecht, ausgegrenzt und wird ihm dieses Recht damit abgesprochen, so hat das schlimme Folgen. Ein später Geborener stellt sich (unbewusst) auf den gleichen Platz und wird, ohne zu verstehen wieso, ebenfalls ausgestossen. Er fühlt sich einsam, unverstanden, manchmal sogar verfolgt (z.B. gemobbt). Natürlich ist nicht jede Familiengeschichte gleichermassen belastet. Doch auch das (vergleichsweise) kleine Unglück wird später aufgegriffen und fortgeführt. Hat die Grossmutter z.B. ihre erste Liebe im Krieg verloren, wagt sich die Tochter nicht, den geliebten Mann zu nehmen und heiratet ggf. den "Zweitbesten". Die Enkelin versucht nun, das Unrecht am Vater (der ja nur zweite Wahl ist) wieder gutzumachen, indem sie sich zu ihm stellt und bei ihm bleibt. Meist wird aus ihr dann "nur" eine Geliebte und keine Ehefrau.
Ähnlich störend auf die erwünschte Fülle des Lebens wirken sich Misserfolg und Krankheit aus. Hat z.B. der Vater im Laufe seines Berufslebens einen grossen existentiellen Verlust erlebt, der nachhaltig der Familie schadet, so verbietet sich der Sohn jeglichen Erfolg. Er strengt sich an, er weiss, er hätte Potenzial und doch bleibt die Fülle aus. Gerade dann, wenn Klienten mit "unlogischen" Schicksalsumständen in die Beratungspraxis kommen, müssen wir an Verstrickung denken. Natürlich hat jeder Mensch auch sein eigenes, von ihm persönlich erarbeitetes (oder erwirtschaftetes) Leben. Doch plötzlich werden die Zusammenhänge verständlich, sie liegen auch psychologisch-astrologisch auf der Hand. Persönliche Schwächen, Hemmungen, eine Trotzhaltung dem Leben gegenüber, negative Verfangenheit usw. sind Schwierigkeiten, die aus der persönlichen Geschichte erwachsen. Erst wenn Umstände, Gefühle und schicksalhafte Wiederholungen (z.B. verliebt sich eine Frau zum wiederholten Male in einen unerreichbar verheirateten Mann) auftauchen, die so gar nicht zum Wesen und den Möglichkeiten des Menschen zu passen scheinen, schauen wir tiefer in seine Herkunft hinein. Dort sehen wir ihn in einem grösseren Zusammenhang, grösser als er selbst, machtvoller als sein bewusster Wille. Wie schon erwähnt, ist die Lösung von übernommenem Leid immer mit einer Art Verrat verbunden. Der Mensch, dem es jetzt besser geht (als z.B. den Eltern), der jetzt Liebe und Glück erfährt, hält sich tief in seinem Inneren für untreu. Mag sein, dass ihm dies ebenso wenig bewusst ist wie die vorangegangene Verstrickung. An den "Symptomen", die sein Leben hervorbringt, können wir diesen Zusammenhang jedoch sicher ablesen. Manchmal geschieht es, dass jemand nach getaner Lösungsarbeit eine Zeit lang Kraft und Leichtigkeit spürt. Seine Lebensumstände verbessern sich zusehends. Und plötzlich kommt es zu einer Art Rückschlag. Die alten (negativen) Gefühle stellen sich wieder ein. Sein Umfeld reagiert und bald ist alles beim Alten. Das ist nicht etwa Unvermögen oder eine schlechte therapeutische Arbeit. Nein, es ist Treue und Liebe - Loyalitätsliebe. Sie ist ein starkes Band und oft stärker als der Lösungswunsch.
Quellennachweis:
Ingrid Zingel